Deindustrialisierung
Die Grundidee hinter Deindustrialisierung ist theoretisch ausgezeichnet: Die Herstellungsaktivitäten der Unternehmen in Entwicklungsländer (wo die Arbeitskraft billiger ist) auszulagern und die Aktivitäten des Herstellungsmanagements in reichen Ländern zu konservieren. Den Entwicklungsländer haben durch die Schaffung von Arbeitsplätzen eine Gelegenheit, sich wirtschaftlich zu entwickeln. Da die Arbeitskraft billiger ist, werden die Firmen konkurenzfähiger. Schließlich sollte dieses System auch den reichen Ländern zugutekommen, denn die der Herstellungsmanagement gewidmeten Aktivitäten finden meistens in Firmensitzen und Büros statt: Sie gehören zum Dienstleistungssektor und werden besser bezahlt. Höhere Lohne bedeuten mehr Konsum und deshalb höhere BIP. Eine richtige „Win-Win-Situation“ (Entschuldigung für den Anglizismus, aber er passt dem Kontext perfekt). So wurde Deindustrialisierung in den 90er und 2000er Jahre vorgestellt. Sie wurde von manchen anderen Ideologien begleitet, wie die „Fabless“ (Fabricationless)-Ideologie: Die Firmen sollten die Herstellung der Produkte an Subunternehmer vergeben, um sich auf ihre Konzipierung und Verkauf zu konzentrieren und dadurch Geld zu sparen. Vielleicht haben sie erraten, dass die Ergebnisse dieser Ideologien in der Realität sich von der Theorie ein wenig unterscheiden, wie es oft vorkommt... Deindustralisierung verursachte eine riesige Arbeitslosigkeit in den Ländern, wo Fabriken schlossen, und bei Arbeitern, die sich schon in den prekärsten sozialen Lagen befinden. Die sozialen und ökologischen Kosten der Entwicklung der ärmeren Länder, wo die Fabriken sich niederlassen haben, waren schrecklich. Ich habe immer noch diese Bilder chinesischer Kinder, die sich zehn Stunden pro Tag in unsicheren Fabriken abquälten, ohne Pausen, ohne Sozialversicherungen. Und für einen Hungerlohn, natürlich. In Indien seien 2019 1.67 Millionen Todesfälle auf Luftverschmutzung zurückzuführen gewesen, und die Zahl steigt jedes Jahr. Außerdem hatten Länder wie China es nicht vor, die Fabrik der Welt für immer zu bleiben. China hat seinen inneren Markt entwickelt, seine Energieversorgung sichergestellt. Sie beschäftigt sich jetzt mit neuen Technologien und einer zunehmenden Militarisierung. Es ist nun die zweite Macht — manche sagen die erste — unserer Welt. Westeuropa und die Vereinigten Staaten mögen wiederholen, sie fühlen sich von China bedroht, aber vergessen ja schnell, dass der Geiz ein paar westlichen Firmen dazu sehr beitrugen... Schließlich soll man nicht vergessen, dass Deindustrialisierung definitionsgemäß längere Versorgungsketten bedeutet. Was macht man dann, wenn solche Ketten gebrochen werden? Die COVID-Krise hat eine schmerzhafte Antwort auf diese Frage gebracht, wenn es uns Medikamente und Masken fehlte. Deindustrialisierung bedeutet fragilere, abhängigere Wirtschaften. Ich könnte mehr perverse Folgen der Deindustrialisierung erwähnen. Wenn ganze wirtschaftliche Sektoren eines gegebenen Lands ausgelagert werden, dann bedeutet es, dass niemand mehr in diesem Land dafür gebildet wird. Bei uns hat Deindustrialisierung durch einen Wissenverlust zu einem Mangel an qualifizierter Arbeitskraft in manchen technischen und industriellen Bereichen geführt, geschweige dass Handwerk und berufsbildende Schulen/Studiengänge kulturell gar nicht hoch geschätzt sind... Natürlich hatte Deindustrialisierung einige positive Seiten: Weniger Weltschmutz in den deindustrialisierten Ländern (da die Fabriken nicht mehr da sind), billigere Produkte für die westlichen Verbraucher (die aber insgesamt ärmer geworden sind), aber die Nachteile überwiegen die Vorteile, meiner Meinung nach. Tatsächlich habe ich vor kurzem gelesen, eine Art Deindustrialisierung wegen eines Rückgangs der Investitionen habe in Deutschland begonnen. Als Bürger des deindustrialisiertesten Lands Europas finde ich es traurig. Ich habe keinen Einfluss in dieser Welt und jedenfalls ist es nicht meine Rolle, Rate zu geben, aber wäre ich mächtig, würde ich den Deutschen sagen: „Bitte begehen Sie nicht denselben Irrtum, wie wir. Schießen Sie sich nicht ins eigene Knie!“
- Monsieur_Elephant
- July 22, 2023
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